Tag 62:
Im Leben eines anderen

Anmerkung nach dem Ende meines Experiments (Dezember 2018): Die in diesem Beitrag geschilderte Vermutung eines sexuellen Missbrauchs konnte nicht erhärtet werden. Ich glaube heute nicht, dass mir dies widerfahren ist. Eher glaube ich, dass ich hier einem Therapeutenfehler unterlaufen bin, der in mir das sog. “false memory syndrome” getriggert hat. Ich empfehle jedem, der mit ähnlichen Hypothesen seines Therapeuten konfrontiert ist, weitere Meinungen einzuholen. 

Ich stehe gerade neben mir und fühle mich in das falsche Leben gebeamt. Alles fühlt sich befremdlich und sehr eigenartig an. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben in meinem Körper weiterläuft und ich dabei etwas betreten von der Seite zuschaue. Ich sehe mich wie ich einen Tag mit Meetings durchpowere und fühle nichts dabei. Aktuell habe ich mit meiner Angst und meiner Trauer auch die guten Gefühle weggeschlossen. Ich fühle mich wie eine leere Hülle. Und je mehr ich arbeite, desto weniger Zeit habe ich darüber und über meine Vergangenheit nachzudenken. Doch wenn es um mich herum leiser wird, dann drehen meine kreisenden Gedanken voll auf und nehmen Besitz von mir. Ablenkung oder Schlafen sind gerade meine liebsten Aktivitätszustände, denn wenn ich allein in meiner Wohnung bin und auf meiner Couch sitze, überkommen mich die Emotionen und ich fühle mich überrannt. Sie zu zähmen fühlt sich besser an, als ihnen freien Lauf zu lassen.

Ein Teil von mir würde die Coaching-Session am Mittwoch am liebsten wieder ungeschehen machen. Einfach vergessen und diese neuen Erkenntnisse ausradieren. Das Fundament meines Lebens – meine liebevolle Familie – ist so sehr ins Wanken geraten. Auch wenn meine Familiensituation alles andere als einfach war. Aber mit meiner Mama über ihre Fehler in meiner Erziehung zu diskutieren, war viel leichter als die Gedanken an sexuellen Missbrauch.

Sobald mein Hirn freie Kapazität hat und nicht abgelenkt ist, kreisen meine Gedanken um dieses Thema. Ich versuche mich in die Zeit zurückzuversetzen und mich zu erinnern. Mit aller Kraft versuche ich wenigstens ein paar kleine Erinnerungsfetzen zu Tage zu befördern. Es gelingt mir nicht oder nur in winzig kleinen Ansätzen. Doch jede Erinnerung hinterfrage ich kritisch. Kommen Dinge auf, weil es wahren Erinnerungen sind oder versuche ich krampfhaft Zusammenhänge zu erinnern, weil ich die Hypothese beweisen will?

Ein Freund schickte mir gestern einen Artikel zum Thema „Sexual abuse false memory syndrom“ zu. Er spiegelte so unglaublich gut wider, wovor ich seit der Verdachtsäußerung meines Coaches Angst habe. Ich habe Angst mich mit so viel Nachdruck erinnern zu wollen, dass ich falsche Erinnerungen zu Tage fördere. Wenn meine Seele bzw. mein Bewusstsein solche Geschehnisse tatsächlich wegschließen kann, dann kann sie mir sicher auch falsche Erinnerungen zurückspielen. Situationen, die vielleicht leichter zu ertragen sind als die Originalerinnerungen oder Dinge, die nur aufkommen, damit ich Bestätigung und damit wieder Ruhe finde. Es ist die Ungewissheit, was in meiner Kindheit wirklich passiert ist, was mich gerade so sehr quält.

Wenn ich Erinnerungen hätte und eine Person mit diesen konfrontieren könnte, dann wäre es leichter für mich. Gerade möchte ich mit keiner Person aus meiner Familie Kontakt haben, weil dieser Verdacht im Raum steht. Wie soll ich mich denn mit irgend jemandem unbefangen unterhalten? Und gleichzeitig habe ich das Gefühl auch mit niemandem aus meiner Familie darüber sprechen zu können, weil sie unter Umständen eine falsche Anschuldigung übernehmen würden. Etwas, das nur schwer zu revidieren ist, wenn sich doch eine andere Wahrheit herausstellen sollte? Ich fühle mich gerade wie gefangen in einem Käfig.

Mein größtes Problem ist, dass ich dieser Person, die im Verdacht steht mich in meiner Kindheit missbraucht zu haben, nicht böse sein kann. Wenn ich an ihn denke, dann bin ich voller Liebe und ich will nicht, dass sich dies ändert. Ich will mich nicht gegen ihn stellen müssen. Ich will meine Sicht auf ihn nicht ändern müssen. Meine gesamte Familiengeschichte würde damit umgeschrieben werde. Und deshalb ist es so schwierig, denn ich weiß nicht ob meine gedankliche Abwehr daher kommt, dass die Anschuldigung falsch ist oder aber weil ich mein Familiensystem schützen will.

Es ist schwer und ich starte mit einer großen Portion Melancholie ins Wochenende. Ich habe Angst vor der Ruhe, die womöglich einkehrt und Angst vor meinem Gedankenkarussell.

 

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