Tag 61:
Die Dosis macht das Gift

Anmerkung nach dem Ende meines Experiments (Dezember 2018): Die in diesem Beitrag geschilderte Vermutung eines sexuellen Missbrauchs konnte nicht erhärtet werden. Ich glaube heute nicht, dass mir dies widerfahren ist. Eher glaube ich, dass ich hier einem Therapeutenfehler unterlaufen bin, der in mir das sog. “false memory syndrome” getriggert hat. Ich empfehle jedem, der mit ähnlichen Hypothesen seines Therapeuten konfrontiert ist, weitere Meinungen einzuholen. 

Zuerst möchte ich euch allen für eure liebevolle Anteilnahme danken. Mich haben gestern so viele Nachrichten erreicht und es tut so gut mit diesem Thema nicht alleinzusein.

Nachdem ich den gestrigen Abend zuerst noch sehr emotional war, schaltete meine Stimmung sobald sehr schnell wieder in den „Funktionieren-Modus“ um, sobald ich zurück zu Hause war. In mir herrschte weiterhin das Grundgefühl „Wie kann das sein?“ vor und breitete eine taube Ungläubigkeit in mir aus. Also tat ich das, was ich am besten konnte und arbeitete, schrieb E-Mails und machte Sport. Von außen betrachtet, mutete dies für mich lächerlich skurril an. Ich war voller Trauer und wollte weinen, aber ich war zurück in der Rationalität und entstieg dem Gefühl der Verletzung raus in den Kopf.

Ich rationalisiere meine Probleme

Dieses Verhaltensmuster bin ich von mir lang tradiert gewöhnt. Wenn mich meine Gefühle zu sehr schmerzen, dann flüchte ich in meinen Kopf. Die Welt des Denkens ist meine Komfortzone. Statt Probleme auf der Gefühlsebene an mich heranzulassen, kaue ich gedanklich auf ihnen herum. Wenn ich sie in mundgerechte Häppchen zerkleinere, wirken sie weniger bedrohlich. Wenn ich sie auf rationaler Ebene angehen kann, dann sind sie weit genug weg, dass sie mir nicht gefährlich werden können. Ich habe sie dann – zumindest gefühlt – unter Kontrolle.

Diese Trennung von Herz und Verstand ist mir wohl bekannt. Ich würde mich selbst als sehr emotionalen Menschen beschreiben. Meine Emotionen bestimmen mich. Und deshalb sind sie gleichzeitig so gefährlich für mich. Um die Gefahr der emotionalen Überforderung zu entgehen, bin ich ein stark durchdachter Mensch. Etwas zu tun ohne die Konsequenzen meines Tuns abzuwägen, fällt mir schwer. Meine Rationalität ist mein Schutzschild. Ein gutes Beispiel ist dieser Blog: Eine überaus rationale Art und Weise mich dem Thema Liebe und meinen Gefühlen zu nähern.

Wenn ich über meine gestrigen Erkenntnisse nachdenke, dann ergibt alles unmittelbar Sinn. Wenn ein Kind sexuellen Missbrauch erlebt hat, dann möchte es diese Gefühle abschirmen. Es möchte nicht spüren was da mit ihm geschieht. Es geht von der Wahrnehmung der eigenen Gefühle und des eigenen Körpers in seinen Kopf. Gedanken können in solch einer Missbrauchssituation laut genug sein, um die Schreie der Seele zu übertönen oder zumindest abzumildern.

Kinder, die so etwas erleben, dürfen nicht darüber sprechen. Ich war schon als ich Kind sehr sensibel dafür, was ich sagen durfte und was nicht, welche Fragen ich stellen darf und wo ich vielleicht zu persönlich werde.

Ich war als Kind auch nie Kind. Ich dachte immer, dass meine Mutter die Schuldige wäre, heute bin ich mir nicht mehr so sicher was die Ursache dafür ist. Ich habe mein Kindsein abgespalten. Alles was ich wollte war höher, schneller, weiter. Eine große Karriere und weit weg – weit weg von meinem Zuhause und von meiner Familie. Einem Ort, der für mich immer mit Leid, Enge und Traurigkeit assoziiert war. Ich wollte nicht einen Tag vergeuden, um weiter und immer noch weiter weg von meiner heimatlichen Ausgangssituation zu kommen. Ich steckte sogar zu Weihnachten den Kopf in die Bücher – alles besser als zu viel mit meiner Familie interagieren zu müssen. Denn ich hatte nie das Gefühl, dass sie mich verstehen würde oder dass sie mit mir über Themen sprechen möchten, die für mich von Bedeutung sind.

Mein schlauer Kopf wurde zum Gegengewicht meines schweren Herzens. Mich in die Welt der Gedanken, des Lernens und der guten Noten zu verirren, half mir keinen Raum für meine Emotionen zu haben. Mit dem Lernen und Funktionieren unterdrückte ich meine Gefühle sowie die Notwendigkeit mich mit alten Wunden zu beschäftigen bzw. alte Erinnerungen zurück in mein Bewusstsein zu bringen.

Die Tatsache, dass ich keine klaren Erinnerungen an einen möglichen Missbrauch in meiner Kindheit habe, ist wohl keine Seltenheit. Es ist ein Schutzmechanismus meiner Seele, um an den Erfahrungen nicht zu zerbrechen. Diese alten traumatisierten Anteile werden abgespalten und vergraben. Sie werden so tief in unserer Seele versteckt, dass die Gefahr diese wieder ans Licht zu fördern gering ist. Da ich in meiner Selbstfindungsarbeit aber so tief gebohrt habe, kamen auch diese alten Erinnerungen ans Licht. Nachdem ich die letzten 2 Monate so viel verarbeitet und geheilt habe, bin ich nun gefestigt genug, mich mit diesem Abschnitt meines Lebens zu beschäftigen.

Ich fühle mich deshalb hoffnungsvoll. Die Erkenntnis war kein Schritt zurück, sondern ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Heilung. Ich fühle wie es gut tut diese Gefühle langsam und vorsichtig zuzulassen – auch wenn es aktuell nur die Vermutung von Missbrauchs-Geschehnissen sein kann. Ich habe das Gefühl, dass mein Herz sich nicht mehr verstecken muss, sondern sich in der Erlaubnis suhlt zuzulassen was auch immer dazu hochkommt.

Gerade habe ich das Gefühl die Büchse der Pandora erst einmal wieder zugemacht zu haben. Allein fühle ich mich nicht sicher dieses Thema anzuschauen. Vermutlich würde mich die Intensität der Emotionen überwältigen, die dabei aus mir herausbrechen könnten. Es bedarf daher einem Zulassen in mehreren Portionen. Denn wie bekannt: Die Dosis macht das Gift.

 

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2 Gedanken zu „Tag 61:
Die Dosis macht das Gift
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  1. Liebe Lena, unglaublich diese Zeilen von dir zu lesen. Danke für deine Offenheit und die Worte die mir so tief ins Herz gehen. Ich fühle mit dir.

    Ich habe meinen Missbrauch verdrägnt und konnte mich nicht errinern. Meine Ehe ist gescheitert, ich war depressiv und wusste nicht wieso. Alles war nur im Kopf, hab auch nur gelern und Karriere gemacht, wohne weit weg von meiner Familie und die Feiertage sind sehr anstrengend.
    Keiner konnte mich irgendwie verstehen, wieso ich mich in meinem Leben so schlecht fühle, ich habe ja alles.
    Ich musste hinschauen, bewusst und erkannte vieles. Mache seit einem Jahr eine Therapie und es tut sehr gut. Ich kann aber darüber nur in der Therapie reden. Irgendwie ist es immer noch ein Tabu Thema, vor allem Männer verstehen es nicht, denn ich kann mich nur sehr langsam auf einen Mann einlassen – die brauchen sehr viel Geduld.

    Es gibt hierzu eine sehr schöne Dokumentation. “Vererbte Narben” – eine Doku über transgenerationale Traumatisierung und die Folgen – von ARTE. Schaue es dir bei Gelegenheit an.

    Du inspiriest mich sehr. Ich habe das Projekt Selbsliebe gestartet und vielleicht schreibe ich auch darüber einen Blog. Irgendwo müssen die Emotionen hin. Und wie meine Therapeutin sagt – Sie sind ein Kopfmensch, sie müssen es aufschreiben und schwarz auf weiß lesen !

    Mach weiter – schaue hin – es lohnt sich !
    Ich drück dich ganz lieb.

    Vicky

    1. Liebe Vicky,

      deine Nachricht macht mich gerade so glücklich, dass ich dir von Herzen eine digitale Umarmung zusende. 🙂

      Ich werde mir die Doku auf jeden Fall anschauen und habe auch ein Buch dazu, dass ich noch nicht geschafft habe zu lesen…

      Es hilft mir ungemein von Menschen zu hören, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Darf ich Fragen wie lange es bei dir gedauert hat, um von der bösen Ahnung dazu kam, dass du etwas Greifbares in der Hand hattest (z.B. Erinnerungen bzw. Erinnerungsfetzen)?

      Bezüglich deiner Aussage ein Kopfmensch zu sein, muss ich schmunzeln. Genauso geht es mir auch. 😉 Aber wenn man in der Kindheit so traumatisiert wurde, dann ist die Flucht in den Kopf und vor den eigenen Gefühlen wohl einfach ein wichtiger Schutzmechanismus, um in dem Moment zu überleben.

      Was ist das Projekt Selbstliebe genau? Wenn ich google fragen, dann gibt es dazu ziemlich viele Treffer.

      Hab einen schönen Abend! Und nochmals Danke!
      Deine Lena

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