Tag 47:
Die Angst vor dem Ende
(Teil 2)

Ihr Lieben, hier nun Teil 2 zum aktuellen Thema “Die Angst vor dem Ende” (Wer Teil 1 noch nicht gelesen hat, den gibts hier)

Die Flucht in die Oberflächlichkeit

In einer Gesellschaft, in der Trennungen häufiger sind als glückliche Langzeitbeziehungen und Ehen, lassen wir uns aus Angst vor Verletzungen und Schmerz lieber gar nicht mehr richtig ein. Die Angst vor dem Ende kann uns des Genusses des Moments berauben. Sie verhindert, dass wir das Heute in voller Pracht erleben. Manchmal stoßen wir deshalb lieber alles von uns weg, um uns davor zu schützen, erneut zu verlieren. Sich einzulassen bedeutet irgendwann wieder loslassen zu müssen. In den meisten Fällen leider auch nicht erst am Ende des Lebens, sondern nach einigen Wochen, Monaten oder Jahren. Loslassen ist in der Tat wahrscheinlicher als etwas dauerhaft behalten zu können. Wahrscheinlich klammern viele von uns auch deshalb so sehr. Dieses “Nicht schon wieder”-Gefühl lässt uns selbst Dinge aushalten, die uns eigentlich nicht gut tun. Alles besser als erneute Trennung und ein Neuanfang allein. Ein Anfang, der wegen all der schlechten Erfahrungen, die wir in uns tragen, kaum noch unbeschwert sein kann.

Weil wir so viele Beziehungsversuche starten, gehen so viele Versuche schief. Und weil wir so oft scheitern, resignieren wie irgendwann und bleiben lieber allein bzw. lenken uns mit oberflächlichen Begegnungen vor dem Gefühl der Einsamkeit ab. Wir sind wie das Kind, dass auf die heiße Herdplatte gefasst hat. Die enorme Freiheit in der Liebe, hat uns zu einer Generation von Verletzten gemacht. Mit blutenden Wunden und zerrissenen Herzen liegen wir mit den Halluzinationen eines glücklichen Endes am Boden. Wir leiden und um diese Qualen nicht spüren zu müssen, lenken wir uns ab. Wir betäuben unseren Herzschmerz mit Dates, Affären oder zu viel Online Streaming. Die gesellschaftlichen Zwänge haben wir abgestreift, um dann die andere Seite der Medaille kennenzulernen. Statt Bindungszwang verbreitet sich nun die Flucht in die Oberflächlichkeit wie eine Epidemie in einer befreiten Gesellschaft. Ähnlich wie der HI-Virus in einer befreiten Sexualkultur um sich griff. Es ist eine Epidemie der Angst und der verletzten Seelen.

Eines Tages kam mir während einer Trennung folgender Gedanke: Es ist nicht so, dass ich all die gemeinsamen Momente hatte und sie nun fort sind bzw. mir weggenommen wurden. Das Gefühl des Verlusts muss mich nicht schmerzen. Stattdessen habe ich all die Erinnerungen in meinem Kopf und kann sie jederzeit abrufen. Sie sind und bleiben Teil meines Lebens. Sie machen mein Sein aus und haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Glückliche wie schmerzliche Situationen – all das ist Leben. Wenn wir versuchen uns davor zu schützen, dann hören wir auf zu existieren. Diese Sichtweise macht meine Zeit hier auf Erden bunter. Es hilft mir mich wieder einlassen zu können, anstatt aus Furcht wegzulaufen. Es erlaubt mir tief in die Momente zu gehen, anstatt oberflächlich zu bleiben. Denn wenn alles was uns bleibt Erinnerungen sind, dann will ich bedeutungsvolle Erinnerungen.

„Nach allem bereuen wir nicht, was wir riskiert, sondern was wir nicht gewagt haben“

– Raphael Lepenies

Ohne Frage ist es oft schmerzlich an Momente zurückzudenken, die man heute nicht mehr hat, weil man sich oder der/die andere entschieden hat, sich in eine andere Richtung weiterzuentwickeln. Wenn ich an die vielen wunderschönen Momente mit verschiedenen Ex-Freunden zurückdenke, realisiere ich, dass all das nur in meinen Erinnerungen weiterleben wird. Auch die wunderschöne Nacht mit “Mr. wunderschöne Nacht im Mai”, die seither mein Referenzpunkt für Sex ist, verkörpert solch einen unvergesslichen Moment, der sich in meine, Gedächtnis eingebrannt hat. Der Vergleich mit anderen Männern, mit denen der Sex weniger gut ist, macht mich traurig. Denn ich weiß wie gut es sein könnte und habe nicht die Kontrolle darüber, wann es noch einmal so schön sein wird. Dennoch bin ich im gleichen Moment, in dem ich melancholisch zurückblicke, dankbar, dass ich all das erleben durfte.

Die Kostbarkeit (des Lebens) (…) liegt (darin), dass alles vergänglich ist und kein noch so kleiner Funke Freude selbstverständlich.“

– Raphael Lepenies

Die Tatsache, dass ich nicht weiß, ob ich jemals wieder so etwas erleben werde, macht meine Augen wässrig. Und genau das ist ok. Ich werde emotional, weil jede Sekunde dieser wundervollen Momente mir etwas bedeutet hat und weil es eine wunderschöne Zeit war, für die ich sehr dankbar bin. Wenn ich heute traurig zurückblicke, dann weil es so schön war und ich dafür so dankbar bin. Meine Tränen sind Freudentränen, mein Herz lacht und ich weiß, dass ich andere wunderschöne Momente erleben werden. Sie werden vielleicht anders schön sein. Aber sie werden schön sein und ich werde lachen, strahlen, glücklich sein. Denn ich bin immer noch ich. Ich reife und entdecke mehr und mehr meinen wahren Kern. Und je mehr ich bei mir ankomme, desto mehr werde ich die Menschen anziehen, die mein Leben noch erfüllter machen. Je mehr ich bei mir bin, desto mehr werde ich das Leben leben, das für mich bestimmt ist. Alles wird echter. Herz, Kopf und Bauch werden mich nicht mehr fast zerreißen. Alles wird eins werden. Und diese Ruhe, die ich jeden neuen Tag ein bisschen stärker in mir spüre, lässt mich die Vergangenheit in Frieden hinter mir lassen und hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.

Mir wird klar, dass ich mich nicht von dieser Angst leiten lassen darf. Ich darf nicht aus Sorge vor einem möglichen Verlust die Handbremse meines Lebens anziehen oder nur noch langsam im ersten Gang vor mich hintukkeln, aus Angst einen Unfall zu bauen. Die Angst vor dem Ende darf mich nicht lähmen, sonst wird es nie wieder einen Anfang geben. Ich muss diese Angst in Dankbarkeit umkehren. Alles hat ein Ende. All das ist Leben. All das ist gut.

 

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4 Gedanken zu „Tag 47:
Die Angst vor dem Ende
(Teil 2)
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  1. “Sich einzulassen bedeutet irgendwann wieder loslassen zu müssen.”
    Liebe Lena, du spiegelt gerade das wider was tief in mir ist. Diese Angst vor dem erneuten loslassen. Ich bin voller Liebe und Glück und Dankbarkeit weil ich eine so harmonische Beziehung habe, ohne Erwartungen und ohne Druck. Jeder kann sein Leben führen und wir genießen die gemeinsamen Momente in vollen Zügen. Und plötzlich ist man darin gefangen zu merken, dass der Verlust dieser Person einen tiefen Schmerz mit sich trägt und die schönen Momente werden von einem Schatten überdeckt. Die Angst vor dem Ende. Die atemberaubenden Momente welche vorbei sein könnten, irgendwann, vielleicht. Man führt etwas Ehrliches und Tiefes mit dieser Person. Man kann so sein wie man wirklich ist hat quasi das große Glück und dennoch kommt diese innerliche Angst, das alles was man hat verlieren zu können.
    Also was macht man? Schaut man der Angst in die Augen? Geht man auf sie zu? Distanziert man sich und geht in eine Oberflächlichkeit um sich zu schützen?

    Deine Texte sind wundervoll und ich bin so gespannt welche Erfahrungen du sammeln wirst und von Herzen danke, dass du andere Menschen daran teilhaben lässt.
    Hab einen schönen Tag
    Franci

    1. Liebe Franci,

      tausend Dank für deinen liebevollen Kommentar. Deine Worte bewegen mich und machen mich hoffnungsvoll für die Zukunft.

      Ich denke, dass jeder selbst entscheiden muss, wie er mit dieser Angst umgeht. Aber: Die Angst diesen Menschen und die gemeinsamen Momente zu verlieren, ist auch ein schöne Indikator, dass du da etwas ganz besonderes hast. Also vielleicht gelingt es dir ja diese Gefühle umzustrukturieren und statt Angst eine tiefe Dankbarkeit zu empfinden. Zumindest das ist die Empfehlung meines Beziehungs-Vorbild-Paars (87 Jahre alt und immer noch zuckersüß). Als ich sie fragte was ihr “Geheimrezept für eine damals mehr als 60 Jahre glückliche Ehe ist, sagten sie: “Wir sind immer noch jeden Tag dankbar, dass wir einander haben.” Ich denke, wenn man das schafft, dann hält man etwas sehr besonderes mit sehr viel Wertschätzung in den Händen. 🙂

      Hab einen schönen Abend.
      Deine Lena

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