Tag 349:
Liebe muss reifen wie Freundschaften

Je mehr ich über die Liebe nachdenke und lerne, desto klarer wird mir dabei, dass sie Zeit zum Wachsen braucht. Früher war ich immer so ungeduldig und wollte alles immer gleich und sofort. Ich brauchte die Signale des anderen, um meine eigene Unsicherheiten zu überspielen. Und wenn mein Gegenüber nicht direkt Feuer und Flamme war, zog ich mich lieber zurück, um möglicher Zurückweisung aus dem Weg zu gehen. Ich wollte mich nur auf jemanden einlassen, der sich bereits auf mich eingelassen hatte. Das fühlte sich sicherer an. Aber so funktioniert Liebe nicht. Liebe, die fordert, ist keine Liebe. Ein Beziehungswunsch, der so schnell entsteht, ist kein Wunsch nach Partnerschaft, sondern viel mehr ein Besitzanspruch, der auf Verlustangst beruht oder ein gefühlter Mangel, der ausgeglichen werden will. Das Problem dabei ist, dass man den Mangel nur in sich selbst füllen kann. Ein Mensch, der seine Mängel versucht über andere zu decken, wird dauerhaft nicht glücklich werden und u.U. noch den eigenen Partner für sein Unglück verantwortlich machen. Eine Beziehung auf solch einer Basis zu beginnen, ist daher eine ganz schlechte Idee.

Ob man eine Beziehung miteinander führen kann und möchte, ist aus meiner heutigen Sicht unmöglich bereits nach ein paar Dates zu beurteilen. Es braucht viel länger, um die unterschiedlichen Eigenschaften des anderen kennenlernen und einschätzen zu können und auf Basis dessen eine wohl überlegte Entscheidung treffen zu können, ob man miteinander wirklich ein Leben oder zumindest eine gewisse Zeit davon verbringen möchte. Bitte versteht mich hier nicht falsch. Natürlich sollte nicht nur die Ratio, sondern auch die Gefühle ein wichtiges Kriterium bei der Entscheidung für oder gegen eine Beziehung sein. Aber es braucht eben beides in guter Balance miteinander.

Für mich ist das Zusammenwachsen von zwei Liebenden in eine langfristige Partnerschaft heute viel mehr wie das Zusammenwachsen von Freundschaften. Es braucht Zeit, Geduld und gegenseitige Pflege. Man lernt sich kennen, ist sich sympathisch, trifft sich wieder und wieder und wieder. Solange bis sich irgendwann ganz natürlich aus einer Bekanntschaft eine Freundschaft entwickelt hat und man ganz unterschiedliche Facetten des anderen kennt. Manchmal sieht man sich öfter, manchmal weniger oft. Manchmal weht einen der Wind des Lebens an andere Orte und doch bleibt man miteinander verbunden. Ich kenne keinen, der einen anderen Menschen kennengelernt hat und beide nach den ersten Wochen entschieden haben: „Du bist jetzt mein bester Freund!“ Zumindest nicht, wenn die Anzahl der Freunde im eigenen Leben die Zahl n=1 übersteigt. Gute und beständige Freundschaften wachsen über die Zeit – oft über Jahre – zusammen. Und keiner erwartet dabei sich von Anfang an auf eine Person festlegen zu müssen oder gibt Erwartungen an Frequenz und Begleitumstände des Treffens vor.

Leider ist das beim Dating mit den Erwartungen, die wir an die andere Person haben, oft ganz anders. Zumindest war dies früher bei mir so. Ich wusste genau, was ich wollte und was ich nicht wollte, was ich tolerieren konnte und wo gerade roten Flaggen wehen. Und all diese Ego-geprägten Erwartungen und Vorstellungen sind es, die das Zusammenwachsen von zwei Menschen in eine beständige Partnerschaft so kompliziert machen. Es gibt dabei nämlich leider oft klare Vorgaben, innerhalb derer sich etwas entwickeln kann, statt dem ganzen einen unbestimmten Raum zu geben und zu schauen, was darin wächst. Mit dem Sprung in eine Beziehung glauben wir dann den Ausgang von etwas kontrollieren und manipulieren zu können, was wir in Wahrheit nicht können und auch nicht sollten.

Ich glaube heute, dass eine Liebe genauso wachsen muss wie eine gute bzw. beste Freundschaft. Ich will in einem Partner genauso einen guten Freund wie einen sexuellen Spielgefährten finden. Und auch, wenn man die sexuelle Ebene vorziehen kann, kann sich die Freundschaft in der Partnerschaft – genauso wie in anderen Freundschaften – erst langsam über die Zeit entwickeln.

Seitdem ich dies erkannt habe, frage ich mich immer: „Wie würde ich reagieren, wenn mir ein guter und vertrauter Freund genau das Gleiche schreiben/sagen würde?“ In dem Moment erinnere ich mich daran mit der Liebe verbunden zu bleiben. Eine Liebe, die bedingungslos ist und nichts will, sondern sich über alles freut, was sie bekommt, ohne zu erwarten.

Meinen Freunden bin ich schließlich auch nicht böse, wenn sie kurzfristig absagen, weil sie den Abend für sich brauchen. Ich weiß, dass sie es nicht böse meinen und das nichts mit mir bzw. uns, sondern ganz allein mit ihnen selbst und dem zu tun hat, was sie in dem Moment brauchen, um sich gut zu fühlen. Warum sollte ich also von einem Mann enttäuscht sein, der kurzfristig ein Date absagt? Nur ein aufgeblähtes Ego kann in diesem Fall enttäuscht sein, weil es nicht die Anerkennung bekommt, die es für angemessen hält und es als Angriff auf sich selbst versteht. Alles, was ich in dem Moment tun muss, ist mich zu erinnern, dass ich nichts anderes als Licht und Liebe bin. Wie könnte das wohlwollende und vertrauende Wesen, das seinen Selbstwert aus sich selbst heraus zieht, auf einen Menschen böse sein, der in dem Moment das tun möchte, was ihm in dem Moment gut tut? Wie kann ich mir auch nur im entferntesten anmaßen, bestimmen oder kontrollieren zu wollen, was die andere Person mit ihrer Zeit anfängt?

Byron Katie sagt im Buch „Byron Katie über Liebe, Sex und Beziehungen” so schön:

„Persönlichkeiten lieben nicht, sie wollen etwas. Liebe sucht nicht. Sie ist bereits vollkommen. Ihr fehlt es an nichts, sie kennt kein ‘sollte‘. Wenn ich also jemanden sagen höre, dass er einen anderen Menschen liebt und von ihm wiedergeliebt werden will, dann weiß ich, dass er nicht von der Liebe spricht. Er spricht von etwas anderem.“

Liebe ist ganz allein meine Aufgabe. Ich kann von niemandem erwarten Zeit für mich zu haben, mit mir einer Meinung zu sein oder gar mich zu lieben. Jede Erwartung, die ich in diese Richtung habe, kann dauerhaft nur enttäuscht werden. Ich kann nur von mir selbst erwarten, mich zu lieben und mich immer wieder darauf zu besinnen, mir das zu geben, was ich brauche. Das, was wir von anderen erwarten, ist nämlich oft das, was wir gerade vergessen uns selbst zu geben. Und leider erwarten wir von unseren (potenziellen) Partnern oft mehr, als wir es von unseren Freunden tun. Eine Tatsache, die zu so vielen unglücklichen und gescheiterten Beziehungen und Beziehungsversuchen führt.

Mit der Methode „The Work“ von Byron Katie, kann man wunderschön aufdecken, was hinter dem Frust, der Wut, der Enttäuschung etc. steckt, die wir gegenüber einer andere Person empfinden. Wir können dadurch erforschen, was unsere Gefühle, die wir gegenüber einer anderen Person hegen, in Wahrheit mit uns selbst zu tun haben. Denn die andere Person ist nur eine Projektionsfläche unserer inneren Welt, die sich an dieser Person spiegelt, sodass wir sie sehen können.

Ich glaube heute nicht mehr an die romantische Liebe, die immer glücklich ist. Früher habe ich von Männern immer erwartet, dass sie mich glücklich machen würden und lief dann weg, wenn ich mal wieder feststellte, dass ich alleine oder mit einer anderen Person glücklicher war. Ich glaube heute, dass Beziehungen ein Ort akzelerierten Wachstums sind. Weil wir so intensiv mit einer anderen Person zusammen sind und uns ihr öffnen, wird noch mehr emotionaler Staub aufgewirbelt, den es gilt wegzuwischen und uns davon zu befreien. Eine so enge Bindung zu einer anderen Person einzugehen, bietet mir noch mehr Projektionsfläche, um so noch mehr über mich selbst lernen zu können. Je tiefer die Beziehung wird, desto tiefer sind die Staubschichten, an die wir herankommen. Oftmals kommen wir deshalb noch nicht in eine gewisse Beziehungstiefe, weil wir noch zu viel oberflächigen Staub beseitigen müssen. Es gilt hier Schicht um Schicht freizulegen.

Mit dieser Sichtweise in eine Beziehung einzutreten nimmt mir die Angst enttäuscht zu werden oder im Miteinander unglücklich zu enden. Ich erkenne meine Verantwortung in der Beziehung und nehme mich dieser an. Statt etwas von meinem Partner zu erwarten, erkenne ich, dass ich alles, was ich früher von einem Mann erwartet habe, nur von mir selbst erwarten kann. Wenn ich weder Liebe, noch Zeit, noch irgendetwas anderes von meinem Partner will, dann bietet sich innerhalb der Beziehung plötzlich ein neuer Raum, in dem alles passieren kann, aber nichts muss.

Wenn ich heute an die Beziehung denke, die ich in Zukunft führen möchte, dann weiß ich nicht, welchem Beziehungsmodell diese entsprechen wird. Alles, was ich mir für diese Beziehung wünsche ist, dass sie voller Liebe und Wachstum ist – Liebe, die ich selbst in diese Beziehung trage und ein Wachstum, das davon angeregt ist, dass ich mich in dem anderen selbst erkenne. In der Theorie finde ich das eine sehr schöne Vorstellung. Ich bin gespannt, wie sich das in der Praxis umsetzen lässt.

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