Tag 190:
Vergeben und vergessen

Manchmal ist es Zeit alles hinter sich zu lassen und ganz von vorn anzufangen. Nur leider ist es so, dass sich ein „lass uns nochmal von vorn anfangen“ oft viel leichter sagt, als es in der Praxis umsetzbar ist. Wir würden gern vergessen und doch sind die Schmerzen und Enttäuschungen der Vergangenheit oftmals so tief in das Bild eingebrannt, das wir von dem anderen und unserer Beziehung zu ihm/ihr haben. Es fällt schwer unsere Bewertungen von dem, was war, loszulassen und dem anderen eine zweite, dritte oder auch vierte Chance zu geben. Es fällt deshalb so schwer, weil es heißt, dass wir unter Umständen überreagiert haben und eine Änderung unserer Sichtweise notwendig ist. Manchmal auch deswegen, weil wir das Gefühl haben uns klein zu machen und denken unsere Grenzen verteidigen zu müssen, um zu zeigen, dass wir „mehr Wert“ sind und der andere zumindest auf Knien um Gnade flehen sollte. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum uns wirkliches und komplettes Vergeben oftmals so schwer fällt. Der wichtigste jedoch ist, dass wir nicht im Moment leben. Denn im Moment gibt es keine Erinnerungen aus der Vergangenheit und Gedanken an die Zukunft. Es gibt nur das Jetzt und alles was sich darin abspielt ist die einzige Wahrheit.

Das was es uns so schwierig macht, die vergangene Geschehnisse abgehakt zu lassen, ohne, dass sie Einfluss auf unsere Gegenwart haben, ist, dass wir permanent bewerten und Zuschreibungen machen. „Du bist gut zu mir.“, „Du warst böse zu mir und bist eine Gefahr für mich.“, „Dir kann ich vertrauen und euch nicht.“, etc. Bewertungen sind permanent präsent in unserem Kopf und unserem Denken. Und wenn wir nicht bewerten, dann denken wir über andere Sachen nach. Nur selten ist in unserem Oberstübchen Ruhe. Nur selten sind wir im Moment.

Wenn wir das Leben richtig betrachten, dann ist es einzig und allein eine Ansammlung von Augenblicken, die mehr oder weniger schön sind. Wir versuchen zu planen, abzuwägen und die bestmögliche Option zu finden. Und all das bringt uns aus der Moment. Indem wir über die Zukunft nachdenken, sind wir nicht im Jetzt. Indem wir der Vergangenheit erlauben unsere Sicht der Gegenwart zu beeinflussen, nehmen wir uns dem berauschenden Gefühl im Moment zu sein.

Jeder kennt diese kleinen Oasen der Erfüllung, wenn er voll uns ganz im Moment ist. Manche kennen es als „Flow“, andere als Orgasmus. Es ist ein berauschendes Gefühl, wenn man es schafft alles loszulassen und nur im Jetzt zu sein. Ich wünschte mir ich könnte das viel öfter und langanhaltender und übe mich jeden Tag darin. Für mich – in meiner heutigen Sichtweise – ist dieses Gefühl des allumfänglichen im Moment Seins, Erleuchtung. Kein reagieren, sondern ein reines agieren. So allein kann man in jeder Sekunde eine gänzlich neue Welt erschaffen und alles so annehmen wie es ist, denn es ist nur eine Momentaufnahme des Lebens und kann bzw. wird sich ganz gewiss ändern.

Wenn wir das Leben als Zusammenreihung von Momenten begreifen, dann hören wir auf Bewertungen Raum zu geben. Und wenn es uns gelingt im Jetzt zu sein, dann wird die Vergangenheit und mit ihr vergangener Schmerz nichtig. Ein Grund dafür, warum ich die Texte der ersten Hälfte meines OYNG-Experiments offline gestellt habe, ist genau dies – die Vergangenheit hinter mir zu lassen und mit all den Menschen, über die ich bisher geschrieben habe, einen Neuanfang zu starten. Indem ich nicht mehr auf die alten Texte verlinken und darauf Bezug nehmen kann, bin ich gezwungen die Vergangenheit loszulassen und werde daran erinnert, das wahrzunehmen was ich aktuell denke und spüre.

Das, was wir zu oder über eine Person sagen und schreiben, prägt unser Verhältnis zu ihr. Und da es uns Menschen schwer fällt Zuschreibungen und Bewertungen komplett hinter uns zu lassen, ist es manchmal das Beste zumindest die digitale Uhr auf Null zu stellen. Ich lösche daher oft Chats, wenn es eine Konversation gab, die ich hinter mir lassen will.

Nicht alles können wir ungeschehen machen, indem wir auf „löschen“ drücken. Aber es muss auch nicht alles ungeschehen gemacht werden, wenn wir mit einem offenen und liebenden Herzen durch die Welt gehen. Wir lernen durch Fehler – unsere oder die der anderen – und sie machen uns zu der Person, die wir heute sind. Über viele herausfordernde Situationen meiner Vergangenheit bin ich heute sehr dankbar. Viele der Umwege musste ich gehen, weil ich für den direkten Weg noch nicht bereit war.

Manchmal reicht für all das auch ein wenig Zeit. „Die Zeit heilt alle Wunden“ heißt es so schön und ist so wahr. Wie viele Dinge sagen und tun wir im Eifer der Gefechts, wenn die Gefühle in uns hochkochen. Es scheint uns dann unter Umständen unumgänglich,  das, was wir in uns fühlen, direkt nach außen auszuagieren, um uns Luft zu verschaffen und nicht in die unterlegene Position zu geraten. Manchmal wollen wir dem anderen, mit dem was wir sagen auch bewusst wehtun. Hier gilt es sich innerlich ein großes Stoppzeichen zu setzen und die „Timeout“-Karte zu ziehen. Es ist nur ein besonnenes Selbst-Management, was uns davor retten kann auf eine Art zu reagieren, die uns später leid tut.

Oft sind die zwischenmenschlichen Herausforderungen, die uns heute begegnen nur eine Reflexionsfläche für die Gefühle, die wir seit langem und tief in uns tragen. Oft wollen wir auch gar nicht unserem aktuellen Gegenüber weh tun oder haben Angst ihm unterlegen zu sein, oftmals sind unsere Handlungen gegen die Geister der Vergangenheit gerichtet, mit denen wir uns noch nicht ausgesöhnt haben.

„Lead yourself before you can lead others“

Sich selbst zu führen ist die höchste Kunst. Es ist oft schwerer sich selbst zu führen als anderen Richtung zu geben, da unsere eigene Welt von all den Hormonen und emotionalen Zuständen geprägt wird, die wir in uns tragen. Daher fällt ein neutraler Rat für eine andere Person oft so viel leichter, als uns selbst in der gleichen Situation einen guten Ratschlag zu geben und diesen dann auch in die Tat umzusetzen. Können wir uns führen, sind wir in der Lage dem inneren Zirkus der Emotionen in uns Einhalt zu gebieten und zu reflektieren, warum wir dies oder jenes tun. Wir können uns die Zeit nehmen einen Schritt zurückzutreten und unser Verhalten mit unseren Werten abzugleichen. Wir können überlegen was für ein Verhalten wir an anderen Personen in solch einem Moment bewundern würden und im gleichen Moment genauso handeln. Wir können uns im Zaum halten und uns voller Liebe, Wohlwollen und Gleichmut durch jegliche Situation manövrieren. Wir allein entscheiden wie wir unsere Segel in den Wind setzen. Wir allein entscheiden welch ein Mensch wir sein wollen.

Die Kunst ist es sich von Anhaftungen zu befreien. Es ist egal was war oder was eines Tages sein kann, das einzige was von Bedeutung ist, ist was jetzt in diesem Moment stattfindet. Diese Augenblicke gilt es auszukosten und mit voller Achtsamkeit wahrzunehmen. Das Gefühl des Vermissens ist beispielsweise oft nur eine Anhaftung an das, was sein könnte und ggf. das was einmal war, anstatt das Beste aus dem zu machen, was wir im Jetzt haben. Das Leben ist zu kurz, um es nur zu durchdenken. Es will gelebt werden – und das geht nur im Moment.

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3 Gedanken zu „Tag 190:
Vergeben und vergessen
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  1. hi Lena! so sehr ich deinen Schritt, die vorherigen Artikel zu löschen, respektiere und verstehe, so schade finde ich das auch. Denn ich habe im Januar gerne deine Artikel gelesen, in denen ich mich auch total wiedergefunden habe. ich hätte gerne deinen Weg verfolgt und mich vielleicht auch ein bisschen selbst reflektiert. Trotzdem freut mich, dass du für dich so viel Klarheit in dem Projekt findest und Dinge ziehen lassen kannst! Weiterhin alles Gute! K.

  2. hi Lena! so sehr ich deinen Schritt, die vorherigen Artikel zu löschen, respektiere und verstehe, so schade finde ich das auch. Denn ich habe im Januar gerne deine Artikel gelesen, in denen ich mich auch total wiedergefunden habe. ich hätte gerne deinen Weg verfolgt und mich vielleicht auch ein bisschen selbst reflektiert. Trotzdem freut mich, dass du für dich so viel Klarheit in dem Projekt findest und Dinge ziehen lassen kannst! Weiterhin alles Gute! K.

    1. Liebe Katja,

      danke für deine Nachricht. Ich würde dir die Artikel gern liebend gern zugänglich machen, aber es gibt ein paar private Gründe, warum ich das leider nicht kann. Ich hoffe auf dein Verständnis.

      Liebe Grüße, Lena

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