Tag 171:
Was lange währt, wird endlich gut

Kennst du dieses Gefühl, wenn du ein Date hattest und der andere dir sofort sympathisch ist und ihr einfach stundenlang reden könnt? Genau dieses Gefühl hatte ich heute, als ich meinen Vater getroffen habe. Es war ein wenig wie der berühmte Funke, der übergesprungen ist. Und zwischendurch habe ich mich tatsächlich so gefühlt wie bei einem Date, wenn man den Impuls hat den anderen küssen zu wollen. Nun wollte ich meinen Vater nicht küssen. Aber es war dieses Gefühl der Verbindung zwischen uns da, das seit dem ersten Moment des Kennenlernens existierte. Es war schön. Ehrlich gesagt wunderschön. Und es wirft auf alles ein ganz anderes Licht auf ihn und mein Leben.

Ich bin gewollt

Ich dachte immer, dass er mich nicht will und dieser Glaubenssatz breitete sich auf alle Männer aus, die in mein Leben kamen. Tief in mir war ich überzeugt, dass Männer mich ablehnen und diese damals noch unbewusste Überzeugung legte sich wie ein dunkler Schleier auf meine Beziehungen und Männergeschichten. Um das Gefühl der Zurückweisung zu umgehen, behielt ich immer meinen Sicherheitsabstand und spielte zu oft die Unnahbare. Nähern konnte ich mich immer nur denen, die selbst ausreichend unnahbar waren, dass sie mich nicht in Gefahr brachten. Ich hatte so sehr Angst vor Ablehnung, dass es mich lähmte einen Schritt auf einen Mann zuzugehen, den ich wollte. Es war wie der Schritt, den ich nicht auf meinen Vater zugehen konnte. Ich wollte, dass er zu mir kommt und so erwartete ich das Gleiche von allen Männern. Er war der Mann, den ich immer suchte und nicht fand. Denn ich suchte es an der falschen Stelle. Heute habe ich verstanden, dass meine Welt so war, weil mir beigebracht wurde sie so zu sehen. Meine Sicht auf meinen Vater hatte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Sie beruhte auf Missverständnissen und mangelnder Kommunikation.

In Wahrheit hat er die letzten 29 Jahre gewartet, dass ich mich melde und ich habe all die Zeit darauf gewartet, dass er sich melden würde. Doch über viele Jahre nahm keiner den Hörer in die Hand und wurde aktiv. Wir ließen es laufen – so wie es ist – weil es oft leichter ist alles beim Alten zu belassen, anstatt sich der Ungewissheit des Neuen auszusetzen. Ich lerne viel daraus, das ich gern schon früher gewusst hätte: Man muss dem anderen sagen was man will. Er kann es ja nicht erraten. Man muss sprechen, um seine Perspektiven abzugleichen. Falsche Vorsicht existiert oft auf beiden Seiten. Und es macht alles so viel leichter, wenn man ehrlich und offen miteinander kommuniziert, anstatt sich 29 Jahre anzuschweigen.

Ich hatte immer Angst, dass er mich abweisen würde, wenn ich mich bei ihm melden würde. Also meldete ich mich lieber nicht und jeder lebte sein Leben ohne durch dieses Thema zu sehr aufgerüttelt zu werden. Ich dachte, ich könnte es verdecken und mir einreden, dass ich ihn nicht brauchen würde. Über Jahre und Jahrzehnte kam es mir leichter vor mein Leben so weiterzuführen wie es ohne ihn war, anstatt mich auf das Abenteuer und das Risiko des Kontakts und des Kennenlernens einzulassen. Und so kämpfte ich Stellvertreterkriege mit Männern, die damit eigentlich gar nichts zu tun hatten.

Meine Mutter war seit meiner Kindheit gut darin mein Gehirn auf diese Weise zu waschen, dass ich tatsächlich glaubte ihn nicht zu brauchen. Sie sagte immer, dass ich ihn jederzeit kennenlernen könne. Und daran schließ sie direkt an, dass er aber nicht der Vater sei, den ich mir wünschen würde. Er war vielleicht nicht der Mann, den sie sich gewünscht hat, aber auf den ersten Blick kann er sehr gut der Vater sein, nach dem ich mich so lange gesehnt habe.

Wir haben eine sehr schöne Zeit miteinander verbracht. Ein Spaziergang in der Sonne, Eisessen und noch ein wenig die gemeinsame Zeit in einem Café ausklingen lassen. Ich habe es genossen. Ich habe mich wohlgefühlt. Und ich merke gerade, wie das Kind in mir laut „Papa, Papa“ schreit und lacht. Es ist eine ruhige Euphorie. Es ist wie das Gefühl, dass ich immer gesucht habe, wenn ich gedatet habe. Das Gefühl, dass es passt und man sich so gut versteht, dass gar nicht die Frage besteht ob man sich wiedersehen will oder nicht. Es gibt gar keine andere Option.

Ich frage mich gerade, ob es ok ist, dass das Kennenlernen meines Vaters genau das Gefühl erzeugt, wonach ich beim Daten Ausschau gehalten habe. Darf sich beides gleich anfühlen? Habe ich beim Daten vielleicht eigentlich immer meinen Vater gesucht? Wird sich das was ich bei Männern suche, dadurch verändern, dass ich jetzt Kontakt zu meinem Vater habe? Ich weiß es nicht. Ich muss es jetzt auch nicht wissen. Die Zeit wird alles zeigen. Ich genieße jetzt einfach den Moment und freue mich auf das nächste „Date“ mit ihm. Gerade ist alles gut!

Heute Abend habe ich eine Flasche guten Rotweins aus dem Keller geholt. Der Tag will gefeiert werden. Auf das Leben! Auf die Veränderung! In den letzten Monaten hat sich so viel geändert. Und es wird sich wohl noch so einiges ändern. Aber es ist gut, denn wenn man sich traut hinzuschauen und den Vorhang der Vergangenheit zu lüften, wendet sich alles zum Guten!

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